Medienresilienz
Rosellasittiche pflegen sie, ebenso wie Komorenbuschsänger und Kaiserpinguine: Kontaktrufe sind im Tierreich weit verbreitet. Auch zwischen der Füchsin und ihren spielenden Welpen werden Kontaktrufe getauscht. Unsere Verwandten, die Affen, stabilisieren mit Kontaktrufen das soziale Gefüge der Gruppe.
Kontaktrufe signalisieren “Ich bin hier”. Zugleich steckt in dem Kontaktruf auch die Frage “Wo bist du?” und das Warten auf Antwort. Kontaktrufe dienen also zugleich der Selbstvergewisserung wie auch dem Halten und Wiederherstellen des Kontaktes zu anderen.
Stellen wir uns digitale Kommunikation über soziale Medien als Kontaktruf vor: Zeigt sich nicht auch in der Kommunikation über Twitter, Facebook, WhatsApp, Snapchat die Suche nach einem Gegenüber? Suchen wir nicht auch hier nach Antwort, nach Spiegelung, nach Selbstvergewisserung? Suchen wir nicht auch in unserer Mailbox nach Zeugnissen unserer selbst?
Bezug und Bindung
Ja, so ist es. Das Internet adressiert das menschliche Bedürfnis nach Bindung und Bezug. Das ist gut so und ermöglicht uns tatsächlich, Distanzen zu überwinden. Wir können mit den Enkeln in anderen Kontinenten skypen. Wir können zwischen verschiedenen Städten alltägliche Vertrautheit erhalten. Wir können uns im digitalen Raum mit Gleichgesinnten zusammenfinden. Wir können transnationale Konferenzen abhalten, ohne reisen zu müssen. Wir können mit Kollegen in Übersee chatten und unser Wissen in Sekundenbruchteilen mit der ganzen Welt teilen. Wir können uns mitteilen und austauschen.
Das ist gut. Aber: Es öffnet auch die Tür zu sozialer Nötigung und Revierstress. Denn mit der technischen Möglichkeit der ständigen Verbundenheit erwacht auch eine ganz archaische Urangst in uns: Die Angst, alleine und verlassen in der Waldlichtung aufzuwachen und alle anderen sind schon weg. Die Angst, zurückgelassen zu werden. Diese Urangst verbindet den Jugendlichen, der Sorge hat, die entscheidende WhatsApp-Nachricht zu verpassen, mit dem Mitarbeiter, der am Wochenende auf die E-Mail einer Vorgesetzen antwortet. Beide haben Angst, abgehängt zu werden.
Digitalisierungsprozesse flankieren
Unsere menschlichen Kulturtechniken, unsere Unternehmensstrukturen und unsere gesellschaftlichen Erwartungen müssen sich erst noch der ständigen Verbindung und Erreichbarkeit anpassen, die uns die digitale Infrastruktur zur Verfügung stellt. Der technische Fortschritt gibt uns etwas in die Hand, mit dem wir aber erst noch lernen müssen umzugehen. Die Freiheit, die uns der technische Fortschritt gibt, ist mit einer großen Verantwortung verbunden: Die Verantwortung für uns selbst und unser eigenes Handeln.
Wir müssen lernen, uns zu entziehen. Wir müssen die Kraft aufbringen, den Reflexen zu widerstehen, die eine eingehende Mail oder eine Facebook-Benachrichtigung in uns auslösen. Wir müssen darauf vertrauen, dass wir nicht vergessen werden. Wir müssen den Gedanken vergessen, ständig sichtbar zu sein. Wir müssen uns davon befreien, immerzu im digitalen Revier Spuren zu hinterlassen. Mediensouveränität besteht nicht im Entweder-Oder der Digitalisierung – sondern darin, das souveräne Hin- und Herschalten zwischen beiden Zuständen von “Off” und “On” gelingen zu lassen.
Medienresilienz
Das alles ist schwer und es verlangt hohe soziokulturelle Kompetenzen. Sich entziehen können, bremsen können, verpassen lernen, bei sich sein, filtern und priorisieren können, Verantwortung übernehmen – diese Kompetenzen sind zugleich die Kompetenzen, die Menschen allgemein gesund halten (“health literacy”). In der Behandlung von Burnout-Patienten werden genau diese Kompetenzen gestärkt. Gesunde Mediennutzung und medizinische Behandlung und Prävention treffen sich hier. Gefordert ist in beiden Bereichen Resilienz, also die Fähigkeit, konstruktiv mit Veränderungen umzugehen, Belastungen widerstehen zu können und in sich selbst positive nährende Kräfte aktivieren zu können.
Mensch – Unternehmen – Gesellschaft
Meine Arbeit befasst sich letztendlich immer mit der Frage, wie wir als Menschen, als Organisationen/Unternehmen und als Gesellschaft am besten produktiv mit den Auswirkungen des digitalen Wandels umgehen können, wie wir die digitalen Möglichkeiten zum Guten nutzen können.
- Was können wir als Mensch tun, um in einer digitalen Welt glücklich, produktiv und gesund zu sein? Welche Rolle und Verantwortung kommt uns dabei zu?
- Welche Rahmenbedingungen brauchen Unternehmen und Organisationen, um die Digitalisierungsprozesse aktiv gestalten und sinnvoll nutzen zu können? Wie kann eine gute digitale Arbeits- und Unternehmenskultur wachsen?
- In welcher digitalen Gesellschaft wollen wir leben? Wie können wir die Grundlagen für eine gute, resiliente digitale Gesellschaft schaffen?
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Aktuelles zum Thema
Ich freue mich sehr, für diese Arbeit einen kompetenten Partner an meiner Seite zu haben. Mit der familiengeführten Gezeiten Haus Gruppe (Akademie und Fachkrankenhäuser für psychosomatische Medizin und Traditionelle Chinesische Medizin) haben einen “Fokus Medienresilienz” aufgebaut. Dort bündeln wir Angebote, die die Perspektive der Mediennutzungsforschung und die der psychosomatischen Medizin verbinden. So können wir Menschen und Unternehmen dabei unterstützen, sowohl in der Prävention wie in der Behandlung Grundlagen für eine gute und gesunde Digitalisierung zu schaffen.
Einführungsvortrag
Am 8. September 2017 findet auf Schloss Eichholz in Wesseling eine Einführungsveranstaltung mit Vortrag und Podiumsdiskussion statt. Sie sind herzlich eingeladen!
Einführungsvortrag mit Podiumsdiskussion zum neuen „Fokus Medienresilienz“
Workshops
● “Gesund arbeiten und führen im digitalen Zeitalter” (1-tägige Führungskräfte-Fortbildung)
● “Werkstatt für gute Arbeitskultur” (2-tägig, verbindet Mediennutzungsforschung mit Medizin, Stressresilienz und Mediensouveränität)
● Basis-Workshop zu Medienresilienz und verantwortlicher Mediennutzung für Eltern und Erziehende
Weitere Informationen unter sabria.david@slow-media.net
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“Bindung, Identität, Glück”: http://slow-media-institut.net/bindung-identitat-gluck
“Manchmal google ich mich selbst”: http://goethe-salon.de/salon-vorstellung-sabria-david/
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