Tirana. Stadt in der Schwebe

Albanien, seit 2014 EU-Beitritts-Kandidat, liegt nur zwei Flugstunden von hier entfernt zwischen Italien und Griechenland und scheint doch der letzte weiße Fleck auf Europas Landkarte zu sein. Das letzte europäische Abenteuer. In diesen, mir selbst vorher nicht bekannten, weißen Fleck wurde ich eingeladen, um einen Vortrag über die “Ursachen und Folgen des digitalen Wandels” zu halten. Gastgeber war das Goethe Zentrum in Tirana. Vortrag und Podium fanden im Rahmen des “Deutschen Oktobers” statt, einer Veranstaltungsreihe der Deutschen Botschaft.

Unmöglich, hier in Deutschland vor meinem Vortrag in Albanien verlässliche Informationen über dieses Land zu bekommen. Die Informationen waren widersprüchlich (über die Gültigkeit von EC-Karten) oder von Ratlosigkeit gezeichnet (“Albanien? Da muss ich Sie zurückrufen!”). Albanisch ist eine indogermanische Sprache, ein eigener Zweig ohne Sprachverwandte, was für eine irritierende Isolation spricht. Die Albaner seien ein ungeduldiges Volk, hieß es, und in den Bergen gälte noch die Blutfehde (zwei Informationen, die zusammengenommen latent beunruhigend wirken).

hicsuntdracones3“Hic sunt dracones” notierten frühe Kartographen an die Ränder der mit Unwissen gefüllten weißen Flächen des Bekannten. Sie waren und sind Grauzonen, Projektionsflächen für Befürchtungen und allerlei.

So bin ich also – kurz nach dem Tag der deutschen Einheit – mit einer Mischung aus Neugier und Vorsicht nach Tirana geflogen. Mein Fachgebiet, der digitale Wandel, ist schließlich auch ein Neuland. Und was soll ich sagen? Dort ist – natürlich – alles ganz anders als es von hier aus erscheint.

Tirana ist eine sehr spannende Stadt, voller Aufbruch und Bewegung und Fragen. Auf den Straßen und Plätzen herrscht eine entspannte, freundliche und gelassene Atmosphäre. Das Stadtbild ist ein faszinierender Architektur-Mix aus Vergangenheit, Vorvergangenheit, Gegenwart und Zukunft. “Wir kämpfen hier alle ums Überleben”, sagte eine Frau, die ich dort getroffen habe. Die Stadt scheint sich in einem Schwebezustand zwischen Postkommunismus und Präkapitalismus zu bewegen. Auch dies natürlich eine Projektionsfläche, sowohl für die Menschen dort wie auch für mich, die ich von hier dorthin reise. Das Andere prägt den Blick auf das Eigene.

Hier ein kleiner Einblick in eine spannende Stadt voller Veränderung  – meine Reise in den weißen Fleck:

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Der Flughafen Tirana begrüßt mich. In der Spiegelung sind die Berge zu erkennen, die auch die Stadt umsäumen. Der Flughafenbus ist magentafarben und mit Telekom-Werbung überzogen.

Die Architektur Tiranas ist ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch.

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Hier ein neoklassizistisches Erbe der italienischen Faschisten, die das Land besetzt hatten, bevor sie von albanischen Partisanen vertrieben wurden. Mobiltelefone sind tatsächlich – so war es mir bereits angekündigt worden – im Stadtbild sehr präsent.

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[Schuss]
Geschichte auf einen Blick: Gradeaus das Nationaltheater, links ein graues Gebäude mit orientalischer Fensterlaibung. Dahinter ein Plattenbau aus kommunistischer Zeit. Im Hintergrund ein Hochhaus, das in die Zukunft weist. Hinter der grünen Plane befindet sich einer der zahlreichen Bunker, die der Diktator Enver Hoxha bauen ließ.

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[Gegenschuss]
Das Leben ist eine Baustelle. Gerahmt von Neoklassik der Rohbau eines Gehry-artigen Hochhauses.

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Monumentale Befreiungs-Ikonographie an der Fassade des National-Museums.

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Das – auch stadtplanerische – Zentrum der Stadt ist der Platz um den Nationalhelden Skanderbeg. Der Skanderbeg-Platz wird derzeit großflächig neugestaltet. Rechts das Minarett der Et’hem-Bey-Moschee. Mehr als die Hälfte der albanischen Bevölkerung sind islamischen Glaubens, ein Erbe der osmanischen Besatzung. Zusammen mit Christen und Vertretern anderen Glaubens leben sie – so heißt es – seit Jahrhunderten friedlich zusammen. Gemeinsam mit den zahlreichen Atheisten, die wiederum ein Erbe des kommunistischen Diktators sind, der das Land einst zum “ersten atheistischen Staat der Welt” erklärte.

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Ein Blick hinter den Bauzaun: Geschichte und nationale Identität im Umbau.
Wer sind wir und wo wollen wir hin? Zentrale Fragen, nicht nur für ein Land, das EU-Beitritts-Kandidat ist.

Manche sagen, der Staat solle das Geld statt für stadtplanerische Großprojekte lieber in das Gesundheitssystem investieren. Dass das Gesundheitssystem in miserablem Zustand ist, ist tatsächlich die einzige Information, die von hier aus und dort vor Ort genau gleichlautend waren.

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Quo vadis, Albanien?

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Auch der Umgang mit Geschichte lässt sich an der Architektur ablesen:  Soll die Pyramide, einst als monumentales Mausoleum für den Diktator Enver Hoxha geplant, nun abgerissen werden oder nicht? Die Pyramide und der offene, weite Platz darum stehen mitten in Tirana. Bei manchen Albanern spürt man den Wunsch, dieses unliebsame Mahnmal verschwinden zu lassen, diese sichtbare Erinnerung an Zeiten, die die Menschen hinter sich lassen wollen. Auch auf dem Stadtplan des Hotels suche ich die Pyramide vergebens: Hier hat die Gegenwart die Geschichte schon ausradiert.
Das erinnert mich an die Berliner Mauer, die nach “unserer” Wende in geradezu rekordverdächtiger Zeit aus der Stadt und dem öffentlichen Raum verschwunden war. Weg damit! Kaum dass man heute seinen Kindern in Berlin noch begreiflich machen kann, wie es damals aussah.

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Der ursprünglich geplante Abriss des Gebäudes stockt jedoch. Die Pyramide verfällt, aber sie steht. Und sie ist Magnet für alle, die hier vorbeispazieren. Treppen, Brunnen und Podeste laden zum Verweilen ein. Die – vor allem jungen – Albaner eignen sich diesen Stadtraum auf eine ganz pragmatische und lebensnahe Art an: Sie klettern rauf und genießen die Aussicht. Sie rutschen runter und haben Spaß. Sie posen für Fotos und experimentieren mit Selfiesticks. Kann es ein schöneres Beispiel für die Rückeroberung des sozialen öffenlichen Raumes geben?

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Es gibt in Tirana noch ein anderes, sehr schönes Beispiel, wie die Bürger sich ihren Stadtraum zurückerobert haben: Zur Zeit der kommunistischen Diktatur gab es ein Villenviertel, das Blloku, das ausschließlich dem Diktator Hoxha und seinen Funktionären vorbehalten war (absurde Idee) – das gemeine Volk durfte das Viertel nicht betreten.

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Hier ist der Eingang zum Blloku heute. Nach dem Sturz der Diktatur 1991 haben sich die Tiraner diesen öffentlichen Raum wieder zu eigen gemacht. Das ehemals abgeschottete Viertel ist nun voller Cafés, Kneipen und Restaurants und randvoll mit jungen Leuten. Vielleicht ist das Blloku für Albaner auch eine Metapher für ihren Wunsch, der EU beizutreten: Früher isoliert und jetzt Teil einer Gemeinschaft.

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Ist das noch Postkommunismus oder schon Prä- oder Frühkapitalismus? Wer weiß das schon.

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Am Goethe-Zentrum in Tirana das Ankündigungsplakat zu meinem Vortrag. Die Referentin zwischen Alpenveilchen.

Der Vortrag selbst fand im Tulla Center statt, wo im Mai schon Eric Jarosiński alias @NeinQuarterly zu Gast war.

Nach dem Vortrag eine Podiumsdiskussion mit den sehr interessanten Kollegen Professor Rrapo Zguri von der Universität Tirana und PhD Fabjan Lashi vom Canadian Institute of Technology, Tirana. Wir sprechen über “media literacy” und wie wir das in unsere Schul- und Bildungssysteme integrieren können (in Albanien geht man natürlich davon aus, dass wir in Deutschland das längst am Start haben – weit gefehlt!). Wir spekulieren darüber, ob ein “cyber realist” eher “cyber optimist” oder “pessimist” ist. Im Publikum entspinnt sich eine Debatte darüber, was Albabien zu einer wirklichen Demokratie noch fehlt (eine freiere Presse u.a.), in welchem Verhältnis die sozialen Medien zu den offiziellen Medien stehen, über einen public virtual space, über platform diversity und wie wir uns – dies und jenseits mehrerer Grenzen – die Zukunft und unsere digitale Gesellschaft vorstellen.
“Envisioning the world” war der Schlussklang der Veranstaltung, also eher ein Anfang als ein Ende.

Ich danke allen Beteiligten, dass sie das möglich gemacht haben!

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Als ich am nächsten Tag abreiste, regnete es.

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Und mit Blick auf die Berge ging es für mich wieder zurück ins Rheinland.

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Hinweis in eigener und ergänzender Sache:

Ich habe die Fotos dieses kleinen Reiseberichtes unterwegs mit meinem Handy gemacht. Das war ungeplant, musste aber sein, weil Tirana mich vor allem bildlich so beeindruckt hat.

Wer richtige Fotos von Albanien sehen möchte, der sei auf die Fotografin Jutta Benzenberg hingewiesen. Ich habe sie an besagtem Vortragsabend in Tirana kennengelernt. Sie reiste 1991 nach der Öffnung des Landes mit ihrem Mann Ardian Klosi (selbst eine wichtige Figur der Demokratiebewegung) nach Albanien und dokumentierte die frühe demokratische Aufbruchzeit mit drei Fotobänden. Im Vortragsraum im Tulla Center hing ein beeindruckendes Foto von ihr, ein Portrait ihrer Schwiegermutter, einer albanischen Partisanin. Auch das ist lebende Geschichte.
Offenbar ist nicht nur Tiranas Architektur ein offenes Geschichtsbuch, auch die Menschen, denen man dort begegnet, sind lebende Geschichte.
Und als bekennende Sozialromantikerin und pragmatische Idealistin möchte ich sagen: Sind es nicht immer die Menschen, denen wir begegnen, die uns ein offenes Geschichtsbuch sind?

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Kopie von IMG_20161010_140922354

Mehr lesen? Hier mein Bericht über die französische Journalismus-Konferenz in Strasbourg: “Le Conseil de l’Europe à Strasbourg. Ein Fotoessay.

 

 

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