Reoralisierung: Die Wiederbelebung mündlicher Kultur im digitalen Zeitalter

Sabria David

“Print, as it were, translated the dialogue of shared discourse into packaged information, a portable commodity.”

 Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy (1962)

Der digitale Wandel ist eine tiefgreifende Veränderung, die unsere Gesellschaften strukturell verändert. Disruptive Geschäftsmodelle und Phänomene finden sich in allen Disziplinen und Bereichen des Lebens. Wikipedia hat in nur wenigen Jahren Ikonen des statischen Buchdrucks wie den Brockhaus und die Encyklopædia Britannica abgelöst; die Rolle von Gatekeepern im Journalismus und Verlagswesen schwankt, das Urheberrecht steht in Frage.

Warum ist das so? Die Kulturhistorie gibt uns Aufschluss darüber, wie fundamental diese Veränderung tatsächlich ist: Mit den digitalen Medien ist eine neue Schriftkultur entstanden, die Aspekte der mündlichen Tradition mit denen der schriftlichen verbindet. Meine Formel zu dem, was ich „Reoralisierung“ nenne, lautet:

Das Internet ist ein Schriftmedium, das nach den Regeln der Mündlichkeit funktioniert.

Die bekanntesten Werke mündlicher Tradition sind Volksmärchen. Sie haben (wie Mythen und Sagen) keinen einzelnen Autor. Sie entstehen „im Volk“, indem auftauchende Stoffe und Motive immer wieder neu zu Geschichten verwoben und weitererzählt wurden, bis sie sich zu einer immer dichter werdenden Form kondensieren. Sie entstanden in kollektiver Autorenschaft, an der jeder teilhatte, der sie hörte und weitererzählte – bis schließlich die Gebrüder Grimm zur volkskundlichen Dokumentierung diese Geschichten sammelten, notierten und somit auf eine Form festschrieben.

Märchen stammen aus einer (in unserem Kulturkreis) vergangenen Epoche der mündlichen Überlieferung, in der die Produktion und Rezeption von Inhalten in einer Hand lagen. Die mit dem Buchdruck einsetzende Schriftlichkeit demokratisierte einerseits die Rezeption. Bücher wurden jetzt überall gelesen, nicht nur an Höfen und in Klöstern (sogar die Bibel, seit Luther sie in einem Kraftakt ins Frühneuhochdeutsche übersetzt hatte). Andererseits wurde die Produktion von der Rezeption abgespalten: Jeder durfte jetzt Lesen (Alphabetisierung vorausgesetzt), aber das Schreiben blieb in der Druckkultur die Sache einiger Auserwählter. Es war die Blütezeit des Autors, der Content produziert.

Die digitalen Technologien weichen diese festgefügte Ordnung der statischen Schrift wieder auf. Viele Menschen können jetzt zeitgleich auf ein und denselben Inhalt zugreifen. Sie können ihn nicht nur lesen, sie können ihn auch verändern. Sie nutzen und gestalten ihn. Im Grunde passiert bei Wikipedia oder bei Open Source Projekten dasselbe, was früher bei der Entstehung der Märchen auch passiert ist: Nur dass es sich nicht in der zeitlichen Vertikalen (über Generationen hinweg) abspielt, sondern nahezu zeitgleich, also in der zeitlichen Horizontalen.

Ein weiteres Kennzeichen der digitalen Technologien ist der Wechselkanal: Er ermöglicht, sich im Echtzeit-Wechsel zu unterhalten und Sender und Empfänger zugleich zu sein. Jemand, der spricht, erzählt und sich unterhält, ist gleichzeitig Sprecher und Hörer. Ins Schriftliche übertragen bedeutet dies: Leser und Autor.

Während also Werke der statischen Druckkultur festgeschrieben sind und eine geschlossene Struktur haben, ist Schrift im digitalen Raum beweglich, dynamisch, unmittelbar und veränderlich – Eigenschaften, die bisher der mündlichen Tradition vorbehalten waren.

Das Internet befreit den eingangs zitierten „shared discourse“ aus seiner Umklammerung zwischen Buchdeckeln. Gespräch, Diskurs, Interaktion und Teilhabe halten Einzug in die Schriftkultur. Sichtbare und allen geläufige Folge dieser kulturhistorischen Zäsur sind die quasimündlichen Formate der sozialen Medien: Gespräche finden heute auf Twitter, WhatsApp, in Chats und auf Wikipedia-Diskussionsseiten statt. Hier wird in Schrift- und Bildform gesprochen, gechattet und interagiert. Das Soziale hält Einzug in die Medien. Und die Menschen lieben es.

Wie wäre es, wenn wir dieses Potential nutzten, um gesellschaftliche und auch transnationale Diskurse voranzutreiben? Digitale Medien ermöglichen auch für Menschen, die früher ausgeschlossen waren, die Teilhabe an gesellschaftlichen Debatten. Sie schlagen spielend eine Brücke über Ländergrenzen hinweg und sie bringen Menschen miteinander ins Gespräch, die sich sonst nie begegnet wären.

„Human communities are based on discourse“, schrieben die Autoren des Cluetrain Manifesto. Wer das Gespräch fördert, fördert Gemeinschaft und damit auch individuelle und kollektive Identität. Das Gespräch, bisher rein der mündlichen Tradition und Kommunikationsform verhaftet, gewinnt durch den digitalen Wandel eine neue Bedeutung.

Das kulturhistorische mündliche Erbe des digtalen Wandels können wir nutzen, um unsere Zukunft zu gestalten. Phylogenetische Studien haben kürzlich belegt, dass bekannte Volksmärchen 4.000 bis 6.000 Jahre alt sind und lange vor ihrer Verschriftlichung in mündlicher Tradition bis heute überliefert worden sind (S. Graça da Silva, J. J. Tehrani: “Comparative phylogenetic analyses uncover the ancient roots of Indo-European folktales”). Volksmärchen reichen also bis in die Zeit der indoeuropäischen Sprache zurück – einer Ursprache, aus der sich erst im Laufe der Jahrtausende germanische, romanische, keltische und iranische Sprachen entwickelt haben. Wir sollten uns freuen, dass die Kraft der mündlichen Kultur nun auch in unsere Schriftwelt Einzug hält. Wir sollten den digitalen Wandel als große Chance willkommen heißen. Wir sollten alle Möglichkeiten der digitalen Infrastruktur nutzen, um transnationale Gespräche und Diskurse zu führen.

Lasst uns unser pränationales, indoeuropäisches Erbe nutzen, um wieder über Sprach- und sonstige Grenzen hinweg miteinander ins Gespräch zu kommen. Lasst uns unsere digitalen Gesellschaften gemeinsam gestalten und dem Europa der Zukunft eine Chance geben.

Oder – um den eingangs zitierten Marshall McLuhan weiterzuspinnen:

Let’s translate the packaged information back to a dialogue of shared discourse!

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Retribalisierung

Das berühmte digitale Lagerfeuer

Photo: Geert Lovink
Quelle: https://twitter.com/glovink/status/646414796720615424

 

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Mündliche Überlieferung: Jeder ist Zuhörer und Erzähler
Abbildung.: Hans Burgkmair der Ältere (1508) (public domain)

Quelle: http://www.zeno.org/Kunstwerke/B/Burgkmair+d.+%C3%84.,+Hans%3A+Eingeborene+in+Arabien+und+Indien

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[Dieser Beitrag wird auch in englischer Version in der Publikation “Streaming Egos – Digital Identities” des Goethe Instituts erscheinen]

 

 

 

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