Digitale Bildung: Es tut sich was!
Als ich Anfang Oktober nach dem Tag der deutschen Einheit von Tirana zurück nach Deutschland fuhr, war ich deprimiert. Ich hatte dort auf Einladung des Goethe Zentrums bei einer Veranstaltung der deutschen Botschaft einen Vortrag über “Ursachen und Folgen des digitalen Wandels” gehalten. Auf dem anschließenden Podium saßen albanische Medien-Professoren, die über “digital literacy” sprachen. Sie gingen wie selbstverständlich davon aus, dass bei uns in Deutschland, einem technologisch hochentwickelten Land, natürlich längst digitale Kompetenz und Medienbildung einen festen Platz in unserem Bildungssystem haben.
Weit gefehlt, antwortete ich. In der führenden Industrienation Europas verlassen jedes Jahr nahezu eine Million Schüler und Schülerinnen deutsche Schulen – fast völlig ohne Vorbereitung auf die digitale Gesellschaft, ohne in ihren Schulen mit digitaler Bildung und Medienkompetenz in Kontakt gekommen zu sein. Ohne Wissen und Fähigkeiten, die man braucht, um in einer Gesellschaft ständigen Wandels die Chancen und Riskien der allgegenwärtgem Digitalisierung souverän abwägen zu können. Informatikkurse und einzelne Projekte engagierter Lehrkräfte sind seltene Ausnahmen.
Als ich also zurück im Flieger saß, war mir noch mal klar geworden, wie starr unser deutsches Bildungssystem ist, eingekeilt zwischen Länderhoheit und Lehrplänen, Abschlussquoten und Fachbereichen. Ich dachte an die Schule meiner Kinder, an die Scheu und Vorbehalte der Lehrer, sich mit einem Thema zu befassen, in dem die Kinder immer besser informiert sind als sie selber. “Was tun Sie als Schule, um Ihre Schüler auf die digitale Gesellschaft vorzubereiten?”, fragte ich den Konrektor dieser Schule. “Das steht nicht in unserem Bildungsauftrag”, entschuldigte er sich. “Und in welchen Fachbereich sollte ich das unterbringen?”
Hier wird sich nie etwas ändern, dachte ich. Albanien wird vor uns digitale Kompetenzen an der Schulen und Universitäten einführen.
Und dann kam Calliope
Und dann wurde wenig später auf dem IT-Gipfel die Calliope vorgestellt. Eine programmierbare Mini-Platine, ein Winzrechner, für Kinder in der Grundschule. Entwickelt wurde die Calliope mini von dem Kölner Stephan Noller und Maxim Loick, einem Bonner. Neu ist die Idee nicht. England führte 2015 dem Micro:bit flächendeckend in alle Schulen ein und auch mein Kollege Jörg Blumtritt hat mit seinem Münchner Team den Bayduino an den Start gebracht, einen in Bayern produzierten Internet of Things Rechner für Kinder.
Was an Calliope besonders ist: Das Projekt ist sehr breit aufgestellt und setzt sehr früh an (schon in der dritten Klasse, noch vor dem Einsetzen der Gendergap). Stephan Noller sitzt im digitalen Beirat des Wirtschaftsministeriums und hat dessen (auch finanzielle) Unterstützung. Auch sonst hat Stephan offenbar jede Menge Strippen gezogen. Die Internetbeauftrage der Bundesregierung, Prof. Gesche Joost, ist mit ihm und anderen Mitglied der frisch gegründeten gemeinnützigen GmbH. Auf dem IT-Gipfel stellte die Bundeskanzlerin – während des Obama-Besuchs, den sie dafür in Berlin zurückließ – den Mini-Computer vor.
Die für die praktische Realisierung notwendige Unterstützung aus den Ländern kommt nun Stück für Stück hinzu: Das Saarland macht den Anfang und wird im Januar die Calliope mini flächendeckend in den dritten Grundschulklassen einführen. Auch Lehrer, die mit neuen Medien fremdeln, behutsam auf den Weg der digitalen Bildung mitzunehmen, ist wichtiger Teil des Projektes. Der Cornelsen-Verlag – ein klassischer Schulbuchverlag – erstellt Unterrichtsmaterialien und stellt sie unter eine CC-Lizenz frei* zur Verfügung. Es sind also – das fällt jedem, der sich mit digitaler Bildung befasst, sofort ins Auge – jede Menge sehr dicker Bretter gebohrt worden.
Digitalisierung aktiv gestalten
Ob die Mädchen und Jungen später damit weitermachen, ob sie zu programmieren anfangen oder Informatiker werden, das ist meiner Meinung nach nicht so wichtig. Wichtig ist, dass die Kinder die Technik als etwas wahrnehmen, das sie selbst gestalten können. Dass Technik dazu da ist, ihre Wünsche zu erfüllen. Dass sie nicht nur Konsumenten sind, sondern Gestalter und Erfinder. Dass Technik helfen kann, unsere Probleme zu lösen. Dass sie selbstbestimmt sind. Dass die Technik Wachs in ihren Händen ist – und nicht andersherum. Und dass das Spaß macht, spielerisch ist, dass man ausprobieren kann. Dass es nicht schlimm ist, wenn auch mal etwas schief geht, weil das dazugehört zum Ausprobieren und zum neue Lösungen finden. Dass man Lösungen gut mit anderen zusammen zusammenbasteln kann, wenn jeder seinen eigenen Teil zum großen Ganzen dazugibt.
Endlich auch Kulturtechnik
Was ich damit sagen will, ist: Es ist die Kulturtechnik, die wichtig ist. Das sind die Kompetenzen, die wir in unserer zukünftigen Gesellschaft brauchen: Experimentierfreude, Mut, Kreativität, die Fähigkeit, mit anderen zusammenzuarbeiten, Wissen teilen können, sich als lernenden Organismus verstehen. Wir haben diese Aspekte der Medienmündigkeit seinerzeit in unserem Slow Media Manifest definiert. Sie gelten bis heute. Das Großartige und Gute an diesen Projekten wie Calliope, Micro:bit und Bayduino ist nicht die Technik selbst (so toll sie ist) – sondern die Kulturtechnik, die sie quasi automatisch als subversives Huckepack mitliefert. Sie gibt den Kindern spielerisch die Chance, zu mündigen und souveränen Mediennutzern zu reifen.
Das ist digitale Bildung.
Uns allen, die sich in der einen oder anderen Weise mit digitalen Kompetenzen, souveräner Mediennutzung und den Rahmenbedingungen für eine vernünftige digitale Gesellschaft befassen, und die wir auch auf unsere eigenen Weisen dicke Brette bohren, uns allen wird das sehr viel helfen. Es wird die Schwelle senken, sich auch positiv mit Digitalisierung zu befassen. Es wird den Blick dafür öffnen, dass Digitalisierung mehr ist als als nur Geräte wie Whiteboards und Tablets in die Klassenzimmer einzuführen. Es wird das Bewusstsein dafür stärken, dass die digitale Gesellschaft von uns allen mit dem selbem Erfindergeist, Mut und Gestaltungswillen aufgebaut werden sollte, mit dem die Mädchen und Jungs sich in das Abenteuer Calliope stürzen.
Wir alle wünschen uns, dass das ein Erfolg wird. Und wir tragen gerne dazu bei.
Ein digitales Bullerbü? Vielleicht. Aber wir sollten den Gedanken nicht aufgeben, dass wir Menschen es sind, mit unseren Fähigkeiten, Wünschen und Werten, die die Gesellschaft gestalten. Auch die digitale Gesellschaft.
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* Das ist ein Beitrag zu OER (Open Educational Resources) und freut mich als Mitglied des Präsidiums von Wikimedia Deutschland, des Vereins zur Förderung freien Wissens, natürlich.
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